Erläuterungen (Fassung 2022)

Die Bestimmungen des neuen Artikels 112d BV im Einzelnen erläutert

Absatz 1:

«Bund und Kantone sorgen dafür, dass alle betagten Personen in der Schweiz ihren Bedürfnissen entsprechend, in hoher Qualität und durch ein koordiniertes Leistungsangebot in ihrem Alltag unterstützt und betreut werden.
Sie fördern die Integration der Alltagsunterstützung und Betreuung mit Pflege, Prävention und Gesundheitsförderung. Sie berücksichtigen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bedürfnisse von Angehörigen und freiwillig Tätigen, die Betagte unterstützen und betreuen.»

Dieser Absatz will erreichen, dass Bund und Kantone Alltagsunterstützung und Betreuung im Alter sicherstellen und mit der Pflege integrieren. Betreuung und Alltagsunterstützung werden somit Teile eines öffentlichen Dienstes und entsprechend mitfinanziert.

Diese Leistungen sollen auf die individuelle Situation und die individuellen Bedürfnisse abgestimmt sowie ganzheitlich und koordiniert erbracht werden. Dies macht sorgfältige Abklärungen, den partizipativen Einbezug der unterstützten Personen und ihres Umfeldes sowie den Aufbau von tragfähigen Beziehungen zwischen allen Beteiligten erforderlich. Vorbild dafür könnten im ambulanten Bereich die erfolgreichen Buurtzorg-Teams, im intermediären und stationären Bereich das Wohn- und Pflegemodell 2030 von CURAVIVA sein. Es ist wichtig, den alten Dualismus «ambulant» versus «stationär» zu durchbrechen und der schrittweisen Zunahme des Unterstützungs-, Betreuungs- und Pflegebedarfs gerecht zu werden.

Die Leistungen von Angehörigen, freiwilligen und professionellen Unterstützungsdiensten, Spitex, Hausärzt:innen, Heimen, Spitälern etc. müssen koordiniert erbracht werden. Unnötige Doppelspurigkeiten und zu frühe Eintritte in stationäre Einrichtungen sollen vermieden werden.

Ein Modell zur Sicherung dieser Koordination ist eine persönliche Beratungs- und Koordinationsstelle BKS . Eine solche Stelle könnte auch um die verantwortungsvolle Führung des elektronischen Patient:innendossiers besorgt sein.

Die präventive und gesundheitsförderliche Ausrichtung der Alltagsunterstützung- und Betreuung soll gefördert werden. Beispielsweise sollen betagte Personen auf eigenen Wunsch präventive Hausbesuche mit dem entsprechenden Beratungsangebot beanspruchen können.

Die Angehörigen erbringen nach wie vor einen Grossteil der Unterstützungs- und Betreuungsleistungen – oft zusammen mit informell tätigen oder organisierten Freiwilligen. Damit dies so bleiben kann, benötigen sie selbst angemessene Unterstützung, zum Beispiel in Form von professioneller Beratung oder durch Entlastungsangebote (z.B. Tagesstrukturen, vorübergehende Aufnahme der Pflegebedürftigen in Heimen für einzelne Tage oder für eine Ferienperiode).

Buurtzorg ist die Bezeichnung für eine in den Niederlanden sehr erfolgreiche, neue Form der aufsuchenden Pflege; Elemente davon werden bereits auch von einzelnen Schweizerischen Spitexorganisationen umgesetzt. Buurtzorg zeichnet sich aus durch weitgehend autonome professionelle Teams, die Pflege, Betreuung und Alltagsunterstützung aus einer Hand anbieten. Buurtzorg achtet auf eine möglichst hohe personelle Konstanz bei der Betreuung der Leistungsbezüger:innen. Die Hierarchien sind flach, die Administration wird auf das zwingend Nötige reduziert. Buurtzorg investiert zu Beginn einer Pflege- und Betreuungssequenz viel Zeit in die Evaluation der Situation, bezieht dabei betreuende Angehörige, Bekannte, Nachbarn und lokale Unterstützungsstrukturen mit ein und achtet auf tragfähige Beziehungen.

(Siehe NGA-Thementexte, Kapitel «Buurtzorg»)

Das Modell strebt die Erhaltung der Lebensqualität auch bei abnehmenden Kräften an. Eine Alterspflegeinstitution soll sich als Dienstleisterin verstehen, die den pflegebedürftigen betagten Menschen ein selbstbestimmtes Leben in der von ihnen bevorzugten Wohnumgebung ermöglicht: betreutes Wohnen, Wohngemeinschaften, Hausgemeinschaften, stationäre Pflege in Pflegewohngruppen etc. Alterspflegeeinrichtungen sollen Pflege, Betreuung und hauswirtschaftliche Leistungen in den angestammten Wohnungen und in altersgerechten Appartements erbringen sowie spezialisierte Pflege- und Betreuungsangebote bei erhöhtem Bedarf (z.B. Demenzpflege und -betreuung, Palliative Care, Gerontopsychiatrie etc.) sicherstellen. Die klassische Pflegeinstitution wird so zu einem Gesundheits- resp. Quartierzentrum im angestammten Lebensraum des älteren Menschen.

(Siehe NGA-Thementexte, Kapitel «Ganzheitliche Wohn- und Versorgungskonzepte»)

Die Beratungs- und Koordinationsstelle BKS ist ein Modell, das 2008 unter dem Namen «Persönliche Gesundheitsstelle PGS» von mehreren Verbänden speziell für die Schweiz entwickelt wurde. Jede versicherte Person ist verpflichtet, eine solche Beratungs- und Koordinationsstelle (z.B. eine Hausarztpraxis) nach freier Wahl zu bestimmen. BKS sind in Absprache mit den Versicherten für die Koordination aller Leistungen und für die Dossierführung zuständig. BKS müssen die medizinische/pflegerische Erstversorgung sicherstellen können. BKS werden von den Kantonen akkreditiert. Ihre Aufwände für Koordination und Dossierführung werden angemessen vergütet.

(Siehe NGA-Thementexte, Kapitel «Die Beratungs- und Koordinationsstelle BKS»)

Absatz 2:

«Der Bund erlässt für die in Abs. 1 genannten Leistungen Mindestvorschriften.»

Nach aktueller Gesetzeslage sind die Kantone für die Hilfe und Pflege betagter Menschen zuständig. Das soll in operativer Hinsicht auch so bleiben. In vielen Kantonen ist es jedoch bisher gängige Praxis, die Aufgaben in Alltagsunterstützung und Betreuung den Gemeinden, privaten Organisationen oder den Betroffenen und ihren Familien selbst zu überlassen. Oftmals geschieht dies, ohne dass es dafür zwischen armen und reichen Gemeinden einen Lastenausgleich gibt.

Der Bund und die Kantone müssen dafür sorgen, dass die erforderlichen Dienste in allen Regionen in guter Qualität gewährleistet sind.

Eine einheitliche, landesweite Qualitätsförderung oder -kontrolle findet bisher nicht statt. Die Verpflichtung des Bundes zu Mindestvorschriften soll sowohl einen vergleichbaren Qualitätsstandard als auch ein vergleichbares quantitatives Niveau der Leistungen in der ganzen Schweiz sicherstellen, wie das im Bereich der Pflege heute schon gesetzlich vorgegeben ist.

Absatz 3:

«Bund und Kantone tragen die Kosten, die aus der Erbringung der Leistungen gemäss Absatz 1 erwachsen. Die leistungsbeziehenden Personen tragen die allgemeinen Lebenshaltungskosten selbst. Sie können zu einem bescheidenen Anteil an den Kosten für Alltagsunterstützung und Betreuung beteiligt werden.»

In der Schweiz sind die finanziellen Belastungen der privaten Haushalte für Pflege, Betreuung und Alltagsunterstützung sehr hoch. Betreuungskosten gehen voll zu Lasten der betroffenen Personen und ihrer Familien. Dazu kommen hohe Krankenkassenprämien.

Aus diesem Grund soll mit der Initiative erreicht werden, dass Kosten aus der Betreuung und Alltagsunterstützung im Wesentlichen durch die öffentliche Hand getragen werden. Ausgenommen sind allgemeine Lebenshaltungskosten. Eine allfällige Selbstbeteiligung an den Kosten der Alltagsunterstützung und Betreuung darf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen nicht übersteigen. Auch sollen weder die AHV/IV noch die Krankenkassen mit diesen Kosten belastet werden.

Übergangsbestimmung:

«Tritt die entsprechende Gesetzgebung nach Annahme von Art. 112d nicht innerhalb von drei Jahren in Kraft, so erlässt der Bundesrat die vorübergehenden Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg.»

Die Umsetzung des neuen Art. 112d BV muss in einem neuen Bundesgesetz über die Grundversorgung in Alltagsunterstützung und Betreuung konkretisiert werden.

Die Übergangsbestimmung soll sicherstellen, dass Bundesrat und Parlamente die Umsetzung des neuen Art.112d BV zügig an die Hand nehmen. Sollten es nicht gelingen, die entsprechenden Gesetzesgrundlagen innerhalb von drei Jahren zu verabschieden, muss der Bundesrat die Umsetzung vorübergehend auf dem Verordnungsweg regeln.